FLAMENCO TELÚRICO / Zeitungskritik
Carina „La Deblas“ Erde ohne Grenzen
Von Rosalía Gomez, erschienen am 16. September 2020 im Diario de Sevilla
Der Sommer bleibt uns noch treu, der Alltag wird wieder unsicherer und in Sevilla finden sich immer noch Zufluchtsorte von unbezahlbarer Schönheit und Heiterkeit, zeitlose Räume, die Schutz bieten inmitten all der bösen Vorzeichen.
Einer der schönsten ist sicher der Turm Torre de Don Fadrique, er liegt in der Innenstadt in der Nähe des Klosters St. Clara und gehört heute der Stadt Sevilla. Diesen September wird er zu einer Enklave voller Musik und Tanz, dank einer Initiative der Truppe La Tarrasca und der Unterstützung der Produktionsfirma GNP Producciones. Letzten Dienstag fand dort die spanische Erstaufführung der neuesten Produktion von Carina „La Debla“ statt: Flamenco telúrico (zu deutsch in etwa: Flamenco, der aus der Erde stammt).
Vor dem Hintergrund der mittelalterlichen Turmmauern weben drei Musiker im Zusammenspiel einen Klangkosmos, in den der Tanz nach Herzenslust einstimmen kann. Der Flamenco gibt im Hintergrund den Rhythmus vor, aber den Klangteppich webt vor allem der erfahrene Perkussionist Álvaro Garrido mit einem fast unbegrenzten Repertoire an Klangkörpern und Klangqualitäten; von den lebendigsten Farben bis hin zur Ruhe eines Zen-Gartens. An seiner Seite experimentiert der vielseitige Cristian de Moret mit Melodien auf seinem Keyboard und seiner E-Gitarre; der großartige Flamencosänger Quisco de Alcalá schließlich sorgt im musikalischen Zusammenhang des Stücks für den Gegenpol: den Flamenco, urandalusisch, ja fast existenziell. Er ist es – mit seiner kraftvollen Stimme und seinen humorvollen Einlagen, wie einer Bulería-Schrittfolge in Zeitlupe, der den Tanz von Carina mit den Ursprüngen des Flamenco verbindet: der Granaína, der Malagueña, der Trilla oder der Seguiriya.
Gemeinsam mit ihnen begrüßt „La Debla“ das Publikum, sie erinnert sich daran, wie sie vor 25 Jahren aus ihrer Heimat Deutschland nach Sevilla kam. Der Flamenco war und ist ihre Leidenschaft, das stellt sie klar und verneigt sich vor ihm in ihrem Eröffnungstanz: einer Alegría der alten Schule, mit langer Schleppe und Schultertuch, dem Mantón, dessen Schwung von der kräftigen Meeresbrise aus Cádiz herzurühren scheint – dem Ursprungsort der Alegrías.
Sie hätte einen normalen Flamencoabend darbieten können, aber sie tut es nicht. Sie weiß genau, dass sie damit in dieser Stadt, der Hochburg des Flamenco, trotz ihrer tänzerischen Fähigkeiten und schönen Flamenco-Posen nur eine unter vielen wäre. Vor allem aber hat sie durch ihre Ausbildung in klassischem und zeitgenössischem Tanz eine Lust am spartenübergreifenden Tanz entwickelt, die sich nicht mehr bändigen lässt.
Bald legt sie also die traditionelle Schleppe ab und bewegt sich vollkommen frei. Schon bevor sie sich während der langsamen Silencio-Passage von der Schleppe trennt, stellt sie klar, dass sie verschiedenste Sprachen des Tanzes kennt und auch gedenkt, sie zu benutzen – mit einer über Jahre gewachsenen Selbstverständlichkeit. So ruft sie die Erde an, die allen gehört, selbst wenn wir sie weiter hartnäckig mit Grenzen und Narben überziehen.
Und sie tut es in einer fast spirituellen, immer ästhetischen Art und Weise, mit einem sanften Wiegenlied, das sich zu einem wunderschönen Tanz mit einer Leuchtkugel entwickelt, oder mit einem orientalisch anmutenden Tanz; drehend bewegt sie sich in Richtung Boden und weckt ihn, vorsichtig, aber bestimmt. Dann reist sie weiter nach Afrika, in Hüftbewegungen, mit denen man dort die Verbindung zu den Erdkräften sucht und kehrt schließlich zurück zum Flamenco. Aber es ist ein Flamenco des 21. Jahrhunderts, voller Sinnlichkeit, und hemmungslos kombiniert sie Fußperkussion und orientalische Schleierfächer, Jeans und Kastagnetten ... Weil sie es kann.
Gasteig, Carl-Orff-Saal 08.10.
„FLAMENCO TELÚRICO – CARINA LA DEBLA“
Unkonventionell, innovativ und mit höchster künstlerischer Präzision dargeboten – so präsentierte sich das Münchner Gastspiel der Tänzerin und Choreographin Carina La Debla und ihrer Musiker: Quisco de Alcalá (Gesang, Textkomposition), Cristian de Moret (E-Gitarre, Melodica, Komposition) und Álvaro Garrido (Percussion), gekonnt in Szene gesetzt durch die effektvolle Lichtregie von Torben Ahrens. Als „Hommage an das Leben“ verstehen die Künstler ihre Neuinterpretation des traditionellen Flamenco, wobei sie in ganz unnachahmlicher Weise Elemente unterschiedlichster musikalischer und tänzerischer Stilrichtungen kombinieren.
Avantgardistisch und zugleich erdverbunden („telúrico“), experimentell und ausdrucksstark, geprägt von einem schier unerschöpflichen Reichtum an Klangfarben, Ausdrucksformen und musikalisch-tänzerischer Modulationsfähigkeit erschließt sich dem Zuschauer ein Universum an Kreativität, Energie und Poesie. Als äußerst wandlungsfähige und hochtalentierte Tänzerin beeindruckt Carina La Debla durch faszinierende Bühnenpräsenz, beeindruckende Professionalität und schwindelerregendeVirtuosität sowohl in traditioneller Gewandung wie auch im schlichten Jeans-Outfit – und vermittelt auf diese Weise deutlich, dass Intensität und Zauber des Flamenco vollkommen unabhängig von jeglichem folkloristischem Dekor sein kann, soll und vielleicht sogar muss.
Die „Reise durch die Welt des Tanzes und der Musik“ ist in hohem Maße getragen von den drei Musikern und deren jeweils ganz individuellem und unverwechselbarem Beitrag: dem Sänger und ein bisschen auch dem Conférencier der Gruppe, Quisco de Alcalá, dessen Stimmintensität und Timbre durchaus so manche der berühmten Interpreten des frühen 20. Jhds. ins Gedächtnis ruft, und dessen Lyrik eine ganz eigene Mischung aus Melancholie und Humor ist, deren Unmittelbarkeit sogar die bei Gastspielen unvermeidliche Sprachbarriere zu überwinden vermag; sodann von dem Gitarristen Cristian de Moret, der durch seine Experimentierfreudigkeit dem klassischen Flamenco eine Vielzahl innovativer Klangwelten hinzufügen konnte, und gleichermaßen durch Virtuosität wie auch Improvisationstalent überzeugt; und nicht zuletzt vom Percussionisten Álvaro Garrido, der als Klangforscher und Instrumentensammler mit untrüglichem Sinn für jede noch so entlegene Form und Ausprägung der Tonkunst und quasi wissenschaftlicher Akuratesse einen unendlichen Kosmos an Klangfarben konstruiert – es gibt wohl keinen Gegenstand auf der Welt, dem Álvaro Garrido keine Töne zu entlocken vermag. Seine Virtuosität und sein besonderes Talent, ebenso fragile wie tragfähige Klangmuster zu entwerfen, diese wiederum in stabilen Tonräumen zu konzentrieren und damit letztendlich Klangteppiche zu schaffen, bietet die ideale Grundlage, und, wenn man so will, die Erdung, woraus Carina La Deblas avantgardistische Choreographie gleichsam organisch herauswächst.
Die Reise endet jedoch nicht auf der Bühne, bei den Protagonisten, sondern setzt sich fort im Publikum, indem sie diesem die Möglichkeit gibt, den vielfältigen Ton- und Klangnuancen nachzuhören, die rhythmische Variationsbreite in sich aufzunehmen und nachzuempfinden, und auf diese Weise die eigene Erdung aktiv zu spüren. Der Carl-Orff-Saal gewährte nicht nur räumlich ein ideales Ambiente für „FLAMENCO TELÚRICO“, sondern, besonders passend, auch in Anknüpfung an das kompositorische Schaffen des Münchner Komponisten, dessen Werk in vergleichbarem Maße von innovativen Klangräumen, unverwechselbarer Rhythmik sowie einer im Werk selbst angelegten und in ihm tief verwurzelten Choreographie geprägt ist.
Isabel Grimm-Stadelmann
La Debla dekliniert den Flamenco
Flamencokritik
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Carina La Debla
Konzertzyklus Cita con las Músicas von Cajasol. Tanz: Carina La Debla. Gitarre: Eduardo Trassierra. Gesang: Quisco de Alcalá. Perkussion: Andrej Vujicic. Ort: Sala Joaquín Turina des Kulturzentrums Cajasol. Datum: Donnerstag, 25.April. Publikumszahlen: fast ausverkauft.
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Rosalía Gómez
Am vergangenen Donnerstag gab der Konzertzyklus Cita con las Músicas („Treffpunkt Musik“) Gelegenheit, eine grossartige Flamencoaufführung mit der Tänzerin Carina La Debla zu erleben. Seit vielen Jahren beschäftigt sie sich intensiv mit dem Flamencotanz und feilt an einem eigenen Stil, den sie nun in beeindruckender Reife dem Publikum darbot.
Carina stammt aus Deutschland, lebt aber seit vielen Jahren in Sevilla, und hat bei vielen der dortigen Lehrmeistern und -meisterinnen gelernt Sie nähert sich dem Flamenco mit tiefer Leidenschaft und enormen Respekt. Sie ist sich sehr bewusst, dass sie als Deutsche diesen Flamenco nicht aus eigenen Wurzeln oder spontan entwickeln kann. Also nimmt sie ihn mit in ihr Tanzstudio und genießt es, den Flamenco dort mit ihrem muskulösen Körper, neu zu modellieren, dem man das jahrelange Training im Ballett und Modern Dance deutlich ansieht. Mit großer Ehrlichkeit und sichtlichem Vergnügen widmet sie sich den verschiedenen Stilen (Rhythmen, Tänzen) des Flamencos und allem, was ihn ausmacht: wie schön sind ihre escobillas, das Spiel der Hüften und der Arme, die wundervollen Kostüme... In der Farruca wagt sie sich sogar mit dem roten Umhang in der an Hand an eine typische Stierkapfszene, wie sie von Flamencotänzerinnen seit dem 19. Jahrhundert dargestellt wird.
Aber darüber hinaus nimmt sich La Debla die Freiheiten einer Künstlerin des 21. Jahrhunderts und lässt ihrer Vorstellungskraft freien Lauf. So überrascht sie uns plötzlich mit einer Arabesque oder einem Rad ohne dabei jemals die tänzerische Form zu verlassen oder die große Eleganz zu gefährden, die sie auszeichnet. Sie verarbeitet dabei sogar eigene choreographische Sequenzen, die aus Alltagssituationen abgeleitet sind, wie der Erschöpfung, oder aus anderen Kulturkreisen, wie in der herrlichen mariana am Ende des Abends, die mit einem Augenzwinkern die ungarischen Tänze zitiert.
All das im Zusammenspiel mit Eduardo Trassierra, dem jungen und mehrfach preisgekrönten Gitarristen, der nicht nur Carinas Phantasien zu Musik werden ließ, sondern auch in seinen Solostücken brillierte - welch wundervollen bulerías - und immer getragen von der Stimme Quisco de Alcalás und der Perkussion von Andrej Vujicic. Es war eine Aufführung, für die sich das Publikum stehend und mit stürmischem Beifall bedankte.
Diario de Sevilla, 27.04.2013
Für
Göttinnen gelten keine Regeln
Carina La Debla ist eine Flamencotänzerin, die einen Kritiker sprachlos zurücklassen kann. Daher bin ich sehr froh, dass der Auftritt so elegant von Nicola Hülskamp besprochen wurde (s.u.). Ich war beim selben Auftritt und rutschte unruhig auf dem Stuhl hin und her. Noch immer ringe ich um Worte und Fassung.
Überraschung folgte auf Überraschung. vom ersten Moment war klar: es wird ein intensiver Abend werden. Statt Musik Geräusche, Atmen, Wasser, hochkonzentriert und ernst zeigte Carina de Flamencotanz, der ihren Namen ausmacht. Eine Debla als Hommage an die Naturkräfte. Debla bedeutet in der Zigeunersprache Göttin. Und für Göttinnen gelten keine Regeln. Carina La Debla kennt die Flamencoregeln, alle. Seit 16 Jahren ist sie jetzt schon in Andalusien, sie lebt Flamenco. Sie verinnerlichte seine Technik, studierte seine Geschichte, weiß was man darf und was man nicht darf. Und dann macht sie es doch: das Verbotene. Sie reißt das Mauerwerk der Regeln ein mit großem Vergnügen. Und es kommt noch ungeheuerlicher: Carina benutzt den Flamenco, um sich selbst zu verwirklichen. Sie lässt Gesten einfließen, die nicht traditionell flamenco sind, sondern sonstwoher kommen, aus Indien, Ungarn, München oder New York - in Wahrheit wohl ganz aus ihrem Herzen. Mit ihrem ehrlichen und sympathischen Lächeln nimmt sie das Publikum für sich ein. Carina ist ganz sie selbst. Bei all der Maskenhaftigkeit, die den traditionellen Flamenco oft beherrscht, ist Persönlichkeit fast schon eine Provokation.
Es gibt viele Persönlichkeiten im Flamenco, aber nur wenige dürfen aus dem Rahmen fallen. Göttlich, wenn Carina La Debla das Unerhörte wagt. Durch ausgefallenen Choreographien, die unvermutet zu Collagen oder Weltreisen werden. Durch schräge musikalische Ideen ihrer Musiker, die genau wie Carina Spaß am Verrückten haben. oder durch spektakuläre Akrobatikeinlagen. So schlägt Carina mitten im Tanz ein Rad auf der Bühne, als wolle sie allen damit klar machen: Sie ist durch alle Höhen und Tiefen des Flamenco gegangen und jetzt stellt sie ihn von den Füßen auf den Kopf und wieder zurück. Ihr Programm heißt nicht zufällig Flamenco por libre, ein ebenso unübersetzbares wie schönes Bild: frei von der Leber weg oder für die grenzenlose Freiheit.
Carina ist eine Flamencotänzerin der Zukunft. Sie hat sich die Flamencokunst selbstbewusst zueigen gemacht. Jetzt kann sie zeigen, was sie will. Wer traditionellen Flamenco sehen möchte, der ist bei Carina La Debla gut aufgehoben. Wer bereit für eine neue Dimension dieser spanischen Tanzkunst ist, wird bestens bedient.
Oliver Farke
¡Anda! - Fachzeitschrift für Flamenco
Ausgabe nº 102
Carina la Debla "Flamenco por libre"
21. April 2012, Neue Schmiede, Bielefeld
Mit einer gewagten Kombination aus Flamenco und Modern Dance begeisterten Carina la Debla und ihre Musiker am Samstagabend in der Neuen Schmiede Bielefeld das Publikum.
Mit ihrem neuen Programm „Flamenco por libre“ sprengte Carina la Debla die Grenzen des klassischen Flamenco. In einem Rausch aus Bewegung, Musik und Farben erschuf die Künstlerin inspirierend neue Bilder und interpretierte die klassischen Tänze des Flamenco neu.
Gleich der Beginn des Abends verdeutlichte den avantgardistischen Anspruch. Anstelle klassischer Flamencoakkorde bildeten akustische Wassertropfen den Klangteppich für einen expressiven Ausdruckstanz, der sich aus der Dunkelheit ins Bühnenlicht entwickelte und unmerklich die Form wandelte. Erste Schrittkombinationen kündigten rhythmisch den Übergang in die Welt des Flamencos an, bis der Gesang von Quisco de Alcalá unmissverständlich den Beginn einer Seguiriya markierte und damit auch die Tänzerin in die Formenwelt des Flamenco zurückholte.
Das souveräne Spiel mit verschiedenen Ausdrucksformen durchzog nicht nur die Tanzdarbietungen, welche neben der Seguiriya, eine Bambera, eine Farruca und eine Mariana umfassten, sondern spiegelte sich auch in den Soloeinlagen der Instrumentalisten. Eduardo Trassiera (Gitarre) entführte das Publikum mit perlenden Falsettas und verträumten Akkorden in die Zauberwelt andalusischer Nächte, bevor auch er mit virtuoser Leichtigkeit die starren Vorgaben des Flamenco hinterfragte. Unübliche Tonarten und Rhythmen mischten sich unter klassische Flamencomelodien und ließen Neues, noch Unbegreifliches erahnen. Andrej Vujicic am Cajón markierte mit seiner Perkussion den unruhigen Herzschlag, während Quisco de Alcalá mit einer beeindruckenden Variabilität im Ausdruck die Seele der Gruppe verkörperte.
Carina la Debla griff in ihrem Tanz die Anregungen der Musiker auf und brachte sie mit ihrer beeindruckenden tänzerischen Bandbreite und Perfektion zur Reife. Unterstützt von überraschenden, farbenfrohen Kostümen zog sie das Publikum mit ihrem Temperament, ihrem Einfallsreichtum und ihrer raumgreifenden Präsenz in ihren Bann. „Flamenco por libre“ vermittelte auf hohem künstlerischem Niveau Einblicke in die Avantgarde des Flamenco und wurde vom Publikum zu Recht mit stehenden Ovationen belohnt.
Nicola Hülskamp
¡Anda! - Fachzeitschrift für Flamenco
Ausgabe nº 102